Über Frauenfeindlichkeit, Hass und kleine Erfolge der Feministinnen in Großbritannien

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Ein Gespräch mit Emma Ritch, Vorständin der schottischen Frauenorganisation Engender. Nina Locher sprach mit ihr über Entwicklungen der Frauenrechte im Vereinigten Königreich seit dem Brexit-Referendum und über den Hass, den die Szene erlebt.

Women's March 2017 London

Liebe Emma Ritch, Sie sind Vorständin der schottischen Frauenorganisation Engender und in vielen nationalen wie internationalen Gremien für Frauengerechtigkeit aktiv. Was ist Ihre persönliche Geschichte, die Sie an diesen Punkt gebracht hat?

Ich habe als Freiwillige angefangen, zu Frauenthemen zu arbeiten; damals habe ich mich viel mit sozialpolitischen Gender-Themen beschäftigt. Jetzt arbeite ich seit 16 Jahren im Frauensektor in Schottland. Eine meiner Haupttätigkeiten ist die Führung der Frauenorganisation Engender, einer generalistisch angelegten, feministischen politischen Organisation und Interessensgruppe in Schottland. In dieser Rolle vertrete ich die schottischen Interessen bei nationalen, britischen, europäischen und internationalen Foren. Davor habe ich in einer ähnlichen Position bei der Organisation „Close the Gap“ gearbeitet, eine Organisation zur Gleichstellung der Frauen, die sich auf die wirtschaftliche Situation und die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt konzentriert. Zusätzlich bin ich in mehreren nationalen Frauenorganisationen in Schottland als Vorstandskuratorin aktiv. 

Auf Ihrer Website schreiben Sie, dass Sie sich insbesondere mit Geschlechtergleichstellung und Menschenrechten beschäftigen. Wo sehen Sie die Herausforderungen und die Schnittstelle zwischen diesen beiden Themen?

Das ist eine interessante Frage. Ich denke, dass die beiden Themen sich in vielen Bereichen überschneiden. Menschenrechte ermöglichen einen Mindeststandard von Rechten, die die Situation von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen stärken. Stattdessen sehe ich die Gleichstellung der Geschlechter als eine Möglichkeit, die Privilegien und Beeinträchtigungen von Frauen und Männern zu vergleichen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Deshalb ergänzen sich diese beiden Themen und ermöglichen Wege, um die Befreiung und Rechte von Frauen voranzutreiben. Aber die Erfolge in beiden dieser Bereiche werden durch den Brexit gefährdet. 

Wie hat sich die Debatte über Geschlechtergerechtigkeit im Vereinigten Königreich seit dem Brexit-Referendum vor drei Jahren entwickelt?

Der Brexit war definitiv Thema in den britischen Frauenorganisationen. Für uns war es schwierig, Wege zu finden, wie Frauenorganisationen an den Brexit-Verhandlungen der britischen Regierung beteiligt werden können. Soweit wir das beurteilen können, gab es überhaupt kein Interesse der Regierung, Gender-Themen in die Verhandlungen aufzunehmen, zentrale Frauenorganisationen zu integrieren oder sich mit dem Geschlechtergleichstellung zu beschäftigen. Gender nahm weder in den Verhandlungen noch im öffentlichen Diskurs eine große Rolle ein.

Doch wir Frauenorganisationen müssen uns auch mit anderen Themen als dem Brexit beschäftigen. Wir diskutieren im Vereinigten Königreich jetzt seit drei Jahren über den Ausstieg aus der Europäischen Union. Aber im Gleichstellungssektor können wir nicht drei Jahre lange nur über den Brexit reden, da gibt es andere wichtige innenpolitische Themen, die wir voranbringen wollen.

Eine große Aufgabe ist es, die internationale Solidarität und Zusammenarbeit trotz des Brexit zu sichern. Ich bin beispielsweise Vorstandsmitglied der European Women’s Lobby (EWL), wo ich mich dafür eingesetzt habe, dass britische Frauenorganisationen auch nach dem Brexit Mitglied der Dachorganisation bleiben können. Das haben wir jetzt geschafft!

Herzlichen Glückwunsch! Wo sehen Sie andere Möglichkeiten für britische Frauenorganisationen, um weiterhin auf europäischer und internationaler Ebene vernetzt zu bleiben?

Andere internationale Foren für Gleichstellung werden hoffentlich nicht zu sehr vom Brexit betroffen sein. Frauenorganisationen waren zum Beispiel immer Teil von internationalen Foren bei der UN, wie etwa bei der Frauenrechtskommission (CSW), bei dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), beim Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) und anderen Vertragsprozessen. In einigen diesen Prozessen waren wir jedoch eine wichtige Stimme als Mitglied der Europäischen Union und als Teil der europäischen Gruppe. Hier werden wir nach dem Brexit mehr darum kämpfen müssen, um als einzelner Akteur weiterhin relevant zu bleiben und uns Gehör zu verschaffen. 

In Deutschland sehen wir gerade antifeministische Gegenbewegungen gegenüber Stimmen, die sich für Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit einsetzen. Wir erleben eine große öffentliche Debatte über Hassrede online und offline gegen feministische Stimmen. Sehen Sie diesen Antifeminismus in Ihrer Arbeit?

Ja, auf jeden Fall. Engender hat tatsächlich erst am 26.11.2019 einen Bericht zu Hassrede und Frauenfeindlichkeit veröffentlicht. In diesem Bericht fordern wir die schottische Regierung auf, Frauenfeindlichkeit als alleinstehendes, kriminelles Ereignis zu erfassen. Denn wir sind der Meinung, dass die juristische Strafverfolgung in Schottland frauenfeindlichen Kriminalitätsakten derzeit ungenügend nachgeht.

Wir sehen eine Zunahme von frauenfeindlichen Übergriffen online und offline. Das hat bereits jetzt reale Auswirkungen darauf, ob sich Frauen politisch engagieren, ob sie sich zu feministischen Themen äußern und ob sie ihre feministischen oder politischen Meinungen im Netz zur Sprache bringen. Der Tiefpunkt war der Mord an der Labour-Politikerin Jo Cox kurz vor dem Brexit-Referendum. Das ist eines der Produkte der Frauenfeindlichkeit und der Übergriffe, denen wir heutzutage im Netz begegnen. 

Haben Sie persönlich Hassrede durch Ihre Arbeit bei Engender erlebt? Sind diese Entwicklungen auf den Brexit zurückzuführen?

Ja, wir erleben den antifeministischen Backlash genauso wie andere Personen, die sich für feministische Themen einsetzen. Sowohl die Engender-Accounts in den sozialen Medien, als auch Twitter-Accounts von individuellen Mitarbeiterinnen sind Zielscheibe von frauenfeindlichen Übergriffen. Unsere Arbeit wird auch über Telefonanrufe und über andere Kanäle angegriffen.

Es ist meiner Meinung nach jedoch schwierig, den Brexit von den umfassenden, frauenfeindlichen Entwicklungen zu trennen. Wir sehen den Backlash gegen feministische und LGBTI-Themen nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern europaweit. Dies Entwicklungen sind auch Teil des populistischen Rechtsrucks, den wir in Europa erleben. 

Inwiefern hat dies dazu geführt, dass Sie Ihre tägliche Arbeit verändert haben?

Wir haben einige kleine, taktische Veränderungen in unserer Arbeit bei Engender vorgenommen, wie zum Beispiel die Art und Weise, wie wir unsere externe Kommunikation gestalten. Ich glaube jedoch nicht, dass du dich sich so klein machen kannst, um den Hass und den Anfeindungen von Menschen zu verhindern, die gegen dich sind.

Deshalb sollten sich feministische Bewegungen nicht von Menschen einschränken lassen, die unsere Meinungen, unsere Einstellungen und unser Verhalten nicht teilen. Wir müssen weiterhin kämpfen, wir müssen aufrecht stehen und unsere Überzeugungen und Forderungen klar an die Politik und Öffentlichkeit kommunizieren. Und in den Momenten, in denen unsere Gesetze oder unsere politischen Forderungen durch den Brexit gefährdet werden, müssen wir zusammenkommen und gemeinsam weitermachen. 

Erfahren Sie besondere Solidarität von anderen europäischen Frauenorganisationen?

Ja, definitiv. Uns bewegt sehr, wie uns Schwesterorganisationen aus ganz Europa in schwierigen Stunden unterstützt haben. Natürlich kann ich nicht sagen, dass es keine Frau in britischen Frauenorganisationen gibt, die die EU verlassen will. Doch es ist sehr rührend, diese Solidarität und Kreativität zu sehen. Es gab zum Beispiel viele kreative Überlegungen, wie wir Teil von europäischen Gleichstellungsprojekten bleiben können, sollte der britische Staat die EU verlassen.

Was waren schwierige Stunden für Sie?

Einerseits ist die Austerität eine schwierige Zeit für uns, der wir im Vereinigten Königreich seit 10 Jahren begegnen. Ein anderer Moment war die explizite Erklärung der aktuellen britischen Regierung, dass die Antidiskriminierungsgesetze nur eine „Last“ für das Land seien und die Gesetze der Gesellschaft keinen Nutzen bringen würden. In diesen Momenten haben wir zurückgekämpft, um unsere Gesetze zu schützen. Denn wir brauchen diese Gesetze. Diesen Geist müssen wir wiederentdecken, wenn wir uns den Herausforderungen des Brexit tatsächlich stellen müssen. 

Gibt es eine persönliche Erfolgsgeschichte im Zeichen des Brexit, die Sie teilen möchten?

Es gibt nichts, das aufgrund des Brexit passiert ist. Ein Erfolg für mich war, dass viele feministische, dezentralen Organisationen seit dem Brexit näher zusammenstehen. Unsere Frauenorganisationen etwa in Nordirland, Wales und Schottland arbeiten eng zusammen, um die Risiken des Brexit für Gleichstellung zu entlarven. Das war uns besonders für Frauen in Nordirland wichtig, wo der Friedensprozess und die irisch-nordirische Grenze ganz andere Gefahren für Frauen bedeuten könnten.  

Wenn Sie an den Brexit-Verhandlungen teilnehmen könnten: Welche Themen würden Sie in Brexit-Abkommen schreiben?

Ich würde sicherstellen, dass die Regierung an einem starken Einsatz für existierende britische Gesetze zu Antidiskriminierung und Menschenrechten festhält. Ich würde fordern, dass die britische Regierung den fortschreitenden Verbesserungen in die Richtung der Geschlechtergleichstellung auf europäischer Ebene nachfolgt. Ich möchte, dass wir zukünftig weiterhin mit der Europäischen Union Schritt halten können, wenn es um Menschenrechte und Antidiskriminierung geht.

Vielen Dank für das Interview!

 Dieses Interview mit Emma Ritch führte Nina Locher im November 2019. Das Interview wurde auf Englisch geführt.